Erich Kästner: Kasperle besucht Berlin
1. Szene
Silvesternacht 1931. Wolkenfetzen ziehen über den Himmel. Die Sterne zwinkern nervös mit den Augen. Der Sturm heult. Es regnet Punsch.
Am Tiergarten steht ein Polizist. Er hat den Kopf erhoben und läßt sich den Punsch in den vor Staunen offenen Mund regnen.
Kasperle (fällt, wie aus den Wolken, vor dem Beamten nieder und sagt): Entschuldigung, ich komm vom Mond.
Polizist: Wie ist es da oben?
Kasperle: Unbewohnt!
Polizist: Was wollen Sie hier? Mir ist das nicht klar.
Kasperle: Bitte, wo komm ich zum Goethe-Jahr?
Polizist (zieht sein amtliches Auskunftsbuch, blättert und sucht unter G)
Kasperle: Sie glauben kaum, wie gespannt ich bin.
Polizist: Folgen Sie mir. Ich bringe Sie hin.
(Die beiden setzen sich in Bewegung. Der Sturm heult noch immer.)
Kasperle (zeigt auf das Reichstagsgebäude): Können Sie mir sagen, Herr Polizist,
was das hier für ein Gebäude ist?
Polizist: Ich bin noch nicht lange in diesem Revier.
Soviel ich hörte, ist das hier
die Aula der Deutschen, also ein Saal,
in dem an hohen Feiertagen
Minister kernige Sprüche aufsagen.
Früher einmal, früher einmal,
da tagte, ich weiß nicht, wie man das nennt,
in diesem Hause das Pa...Parla...
(An dieser Dialogstelle erhebt sich der Sturm, von der vierten Notverordnung befeuert, zu einer derartigen Lautstärke, daß die - möglicherweise politischen - Bemerkungen überhört werden. Der Polizist wird schließlich wieder vernehmlich:)
Weil man das Gelände kaum noch braucht,
ist ein beachtlicher Plan aufgetaucht:
Man hat erwogen, sich umzustellen!
Man teilt das Haus in kleine Parzellen.
Es wird ein Wohnblock für Junggesellen.
Kasperle: Recht interessant, ganz offenbar!
Doch bitte, wo komm ich zum Goethe-Jahr?
2. Szene
Der Sturm heult noch immer. Kasperle und der Polizist kämpfen mühsam gegen den Punschregen an. Plötzlich finden sie die Straße von einer Volksmenge gesperrt. Die Leute stehen dicht gedrängt vor einem Haus, in dessen Fenstern ehrwürdige Männer lehnen. Diese Männer tragen Zylinderhüte und halten Preislisten in den Händen.
Kasperle: Was ist denn das für ein seltsames Haus?
Und wozu blicken die Männer heraus?
Polizist: Das sind die amtlichen Wirtschaftsräte.
Sie berichten von ihrer neusten Enquête.
Chor der Wirtschaftskenner:
Wir senken die Löhne, wir senken die Preise,
und möglichst beides gleicherweise.
Immer reden, und niemals denken.
Vielleicht sinkt die Not, wenn wir alles senken.
Ein Mann aus der Menge: Wenn alles sinkt, wachsen nur die Schulden!
Chor der Wirtschaftskenner: Ruhe da unten! Ihr müßt euch gedulden.
Wir senken die Preise. Wir senken die Löhne.
Eine Frau aus der Menge: Und wer zahlt die Schulden?
Chor der Wirtschaftskenner: Die Söhne! Die Söhne!
Junger Mann aus der Menge: Wir sollen hungern für eure Fehler?
Ihr ökonomischen Märchenerzähler!
Ihr...
(An dieser Stelle erhebt sich der Sturm, von der vierten Notverordnung befeuert, zu einer derartigen Lautstärke, daß die - möglicherweise politischen - Bemerkungen nicht zu hören sind. Erst dem Chor der Wirtschaftskenner gelingt es, den Sturm zu übertönen.)
Chor der Wirtschaftskenner: Wir senken sogar den Warenumlauf.
Im neuen Jahre ist alles glatt.
Wir senken und hören nicht früher auf,
bis der Wirtschaftskörper Senkfüße hat.
Das geht so weiter. Es hat erst begonnen.
Ja, tief gesenkt, ist halb gewonnen!
Kasperle (hält sich die Ohren zu, er durchbricht die Menge und schreit):
Und so etwas halten die Leute für wahr?
Bitte, wo komm ich zum Goethe-Jahr?
Polizist hat Mühe, ihm zu folgen.
3. Szene
Der Sturm hält an. Kasperle rennt in ein Gebäude hinein, um zu verschnaufen. Der Polizist folgt ihm. Sie stehen in einem großen, überfüllten Saal.
Polizist: Das, was Sie suchen, hier finden Sie's nicht!
Kasperle: Wo sind wir denn hier?
Polizist: Im Landgericht.
Kasperle: Wer sind die Leute auf jenen Bänken?
Polizist: Die Angeklagten. Das läßt sich doch denken!
Kasperle: Das sind ja aber beinahe hundert!
Polizist: Man muß schon vom Mond sein,
wenn einen das wundert.
Chor der Angeklagten: Wir haben nicht das geringste verbrochen.
Wir haben bestochen und wurden bestochen.
Hoher Gerichtshof! Meine Herren!
Wie kommt man dazu, uns einzusperren?
Die Rechtsanwälte: Der Staatsanwalt findet dergleichen betrüblich.
Wie kommt er dazu? Das ist doch ortsüblich!
Er weiß auch, von wem die Projekte stammten.
Die Angeklagten: Nicht wir fingen an, sondern die Be...
Der Vorsitzende: (klingelt, von der vierten Notverordnung befeuert, an dieser Stelle so mächtig, daß die - möglicherweise politischen - Bemerkungen nicht zu hören sind. Das Läuten läßt erst nach, als der Staatsamwalt spricht.)
Der Staatsanwalt: Herr Präsident! Meine Herren Richter!
Wir sind das Volk der Denker und Dichter,
Und deshalb haben wir die Pflicht...
Die Angeklagten (erheben sich und konjugieren):
Ich besteche, du bestichst, er besticht,
Ein jeder Mensch hat seine Schwächen.
Wir bestechen, ihr bestecht, sie bestechen.
(Unter den rauschenden Klängen eines Disharmoniums singen sie das Imperfektum und das Futurum.)
Polizist: Da sehn Sie mal, wie es ist und wie' s war.
Kasperle (ergriffen): Bitte, wo komm ich zum Goethe-Jahr?
4. Szene
Auf der Straße wird den beiden der Weg durch ein vorbeimarschierendes Armeekorps versperrt. Diesem folgt, auf einen geräderten Panzerkreuzer, ein Marinekorps. Der Sturm heult wie s.o.
Kasperle: Geht's in den Krieg? Und wer gegen wen?
Polizist: Sie sollten ein bißchen genauer hinsehn.
Was hier vorbeizieht, sehen Sie,
ist unsere deutsche Film - Industrie.
An Hand ihrer Marine und ihres Heers
verfilmt sie die Wonnen des Militärs.
Chor der Soldaten: Soldatenleben,
ei, das heißt lustig sein.
Wir sind und wir bleiben
ein Militärverein.
Chor der Matrosen: Das ist das Leben der Matrosen.
Wir fahren zur See
im Filmatelier.
Wir haben lange blaue Hosen,
aber leider keine Filmidee.
(Auf der Kommandobrücke des Panzerkreuzers steht ein dicker Industrie - Kapitän und erteilt seine Befehle. Die Produktionsleiter tragen Oberstenuniform. Die Autoren bekleiden den Rang von überzähligen Gefreiten. Der Sturm heult im Marschtakt.)
Kasperle: Was soll denn der bunte Aufzug bedeuten?
Gefällt das wirklich so vielen Leuten?
Polizist: Die Einwohner Deutschlands schwärmen enorm
für Ruck und Zuck und Uniform.
Man kann wohl sagen: Der Korporal
ist Deutschlands männliches Ideal.
Kasperle: Ist das Ihr Ernst? Na hören Sie mal.
Polizist (will antworten, wird aber vom Sturm, den die vierte Notverordnung befeuert, übertönt, so daß die - möglicherweise politischen - Bemerkungen nicht zu hören sind. Statt dessen wird aus den Wolken eine posaunenartige Stimme laut):
Darüber darf nicht gesprochen werden!
Maul halten! Und Friede auf Erden!
Polizist (hält sich den Mund zu. Der Sturm läßt nach.)
Kasperle (mustert entsetzt die vorüberziehenden Filmregimenter und Filmflottillen):
Das ist ja gräßlich, Herr Kommissar!
Ich suche doch aber das Goethe-Jahr...
5. Szene
Es regnet Punsch. Der Sturm heult. In der Ferne verklingt Marschmusik. Der Polizist zeigt auf ein Haus:
Da steht's ja endlich! Da sind wir schon!
Kasperle: (liest ein Schild): Sitzung der Goethe-Jahr - Kommission.
(Sie treten ein. Der Saal ist von Professoren, Rundfunkintendanten und Theaterdirektoren überfüllt. Alle rufen durcheinander.)
1. Professor: Das Thema, das man behandeln muß,
heißt: Goethes Beziehung zum Reißverschluß.
2. Professor: Mein Vortrag, gestützt auf das Goethe - Archiv,
lautet: Goethe und der Infinitiv.
1. Theaterdirektor: Wir werden keine Zeit verlieren
und Goethes Haushaltsbücher dramatisieren.
Ein Rundfunkintendant: Wir hätten gern den "Götz" gewagt.
Doch die Rundfunkzensur hat es untersagt.
Nun senden wir also nach sämtlichen Orten
eine Auswahl aus Buchmanns "Geflügelten Worten".
2. Theaterdirektor: Wir werden gar nichts von Goethe bringen.
Man kann doch schließlich den "Faust" nicht singen!
Zwei Theaterdirektoren (anscheinend Brüder, im Chor):
Wir bringen in unserm beliebten Haus
den "Alternden Goethe" als Singspiel heraus,
mit Christiane und Frau von Stein.
Er liebt sie zu dritt. Er liebt sie zu zwein.
Im zweiten Akt tritt dann Schiller ein.
Er ist verkleidet, wird Goethes Diener,
doch Goethe erkennt ihn im dritten Akt.
Text und Musik schreiben uns acht Wiener.
Und Fräulein von Levetzow tanzt halbnackt.
Nur so, mit Tanzen und Witzen und Singen
kann man den Goethe dem Volk nahebringen.
Die Mehrheit der Anwesenden: So muß man's machen. So ist es richtig.
Der Goethe ist tot. Das Geschäft ist wichtig.
Die zwei Brüder: Bei unserem Aufgebot an Sängern
ist eins von vorneherein klar:
Wir werden die Aufführungszeit verlängern,
bis ins übernächste Jahr.
Ein Außenseiter (wird wütend und schreit):
500 Professoren sitzen hier, knapp
und schlecht gerechnet, ihr Goethe-Jahr ab.
Es hat keinen Sinn, Herrn Goethe zu preisen.
Man muß ihn verstehn und das täglich beweisen.
Und alle, die draußen prügeln und töten,
haben keinen Anspruch auf Goethen.
Sie sollten ihn endlich auch einmal lesen!
Der Mann ist ein Europäer gewesen!
Für euren verbohrten Standpunkt ist
Goethe ein deutscher Kulturbolschewist!
Gebt das doch endlich offen zu!
Alles andere ist bloßes...
(An dieser Stelle schreien, von der vierten Notverordnung befeuert, die meisten Anwesenden wild durcheinander, so daß die - möglicherweise politische - Fortsetzung der Aussprache ungehört bleibt.)
Mehrere Anwesende: Wer ist denn der Bursche überhaupt?
Derartige Reden sind nicht erlaubt.
(Von draußen dringen herzhafte Studenten in den Saal und machen den jungen Mann dem Erdboden gleich)
Kasperle (fragt einen der Eindringlinge): Hochzuverehrender Herr Student!
Halten Sie das für ein Argument?
Student: Er ist zertreten, die giftige Kröte.
Es lebe das Prügeln! Es lebe Goethe!
Ein Theaterdirektor: Und eröffne ich bald eine Goethe - Bar.
Kasperle: Was ist das alles?
Polizist: Das Goethe-Jahr!
6.Szene
Der Sturm heult. Die Kirchenglocken läuten das Neue Jahr ein. Auf der Straße stehen und aus den Fenstern schauen Leute. Sie haben Gläser, brüllen "Prost Neujahr!" und sind relativ gehobener Stimmung.
Kasperle (reicht dem Polizisten die Hand zum Abschied):
Mein lieber uniformierter Vergil!
Was Sie mir zeigten, war wenig und viel.
Das Goethe-Jahr war nicht dabei.
Polizist: Wem sagen Sie das!
Kasperle: Der Polizei.
Der Anblick hat sich trotz allem gelohnt.
Nun fahr ich wieder hinauf auf den Mond.
Er hat einen Vorzug: er ist nicht bewohnt.
(Er geht in tiefe Kniebeuge, springt hoch und entschwebt allmählich.)
Polizist (nimmt den Helm ab und winkt gerührt)
Kasperle (winkt bergab und singt folgendes Lied):
Es scheint, als sei hierzulande
Vernunft eine Art von Schande.
Soll denn der Mensch, als sei das ein Glück,
marschmarsch! auf die alten Bäume zurück?
Das Leben wird niemals wieder, wie's war.
Es werde besser! Prosit Neujahr!
Hebt euer Glas mit Punsch!
Hört meinen Neujahrswunsch:
Ihr solltet euch lieber schützen und stützen,
statt daß ihr einander stoßt und erbost.
Prosit heißt deutsch: Es möge nützen!
Also: Prost!
(Er steigt immer höher und singt die zweite Strophe):
Ihr wart nur selten vernünftig.
Vielleicht versucht ihr's künftig?
Nehmt doch endlich den Kopf in die Hand!
Noch keiner kam mit dem Kopf durch die Wand.
Soll denn das Leben bleiben, wie's war?
Es werde besser! Prosit Neujahr!
Hebt euer Glas mit Punsch!
Hört meinen Neujahrswunsch:
Ihr solltet euch lieber schützen und stützen,
statt daß ihr einander stoßt und erbost.
Prosit heißt deutsch: Es möge nützen!
Also: Prost!
Entnommen dem Buch "Erich Kästner: Interview mit dem Weihnachtsmann - Kindergeschichten für Erwachsene", Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München 2005
Erstmals erschienen am 1.1. 1932 im Berliner Tagblatt
Eine Anmerkung sei mir erlaubt: Wer hier die Gegenwart wiedererkennt, in einem Werk aus dem Jahre 1932, der wird vermutlich genau so wie ich nicht gerade große Erwartungen an die nahe Zukunft haben. Dennoch, in dem oben erwähnten Sinne: Prost Neujahr!